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                  BLUTSCHULD

Es dräut die Nacht am Lager unsrer Küsse. 

Es flüstert wo: Wer nimmt von euch die Schuld? 

Noch bebend von verruchter Wollust Süße 

Wir beten: Verzeih uns, Maria, in deiner Huld!

 

Aus Blumenschalen steigen gierige Düfte, 

Umschmeicheln unsere Stirnen bleich von Schuld. 

Ermattend unterm Hauch der schwülen Lüfte 

Wir träumen: Verzeih uns, Maria, in deiner Huld!

 

Doch lauter rauscht der Brunnen der Sirenen 

Und dunkler ragt die Sphinx vor unsrer Schuld, 

Daß unsre Herzen sündiger wieder tönen, 

Wir schluchzen: Verzeih uns, Maria, in deiner Huld!

Das Gedicht "Blutschuld" schrieb Georg Trakl 1909. Trakl selbst hatte das Gedicht nicht für die Veröffentlichung in den beiden von ihm betreuten Gedichtbänden vorgesehen, es befand sich in seinem Nachlass. In seiner Gestaltung ist der Text nicht von besonderer Bedeutung, doch sein Inhalt hat das Gedicht in den Korpus der häufig besprochenen Gedichte Trakls gehoben. Schon früh wurde ja über eine inzestuöse Beziehung zwischen Georg Trakl und seiner Schwester Margarethe spekuliert.

 

Neue Aktualität bekam das Gedicht durch den Film "Tabu" (2011) von Christoph Stark, in welchem unverblümt eine sexuelle Beziehung zwischen Georg Trakl und seiner viereinhalb Jahre jüngeren Schwester Margarethe dargestellt wird. "Die Welt" titelte zum Film gar "Die Geschwisterliebe des dichtenden Kokainisten". Die Beziehung ist allerdings nicht eindeutig belegt und verschiedene Trakl-Forscher, etwa der Leiter der "Georg Trakl Forschungs- und Gedenkstätte" in Salzburg, Hans Weichselbaum, sehen in der literarischen Darstellung des Themas durch Trakl lediglich symbolische Wunscherfüllung, eine "ins Kunstwerk transformierte Obsession" (Weichselbaum, S. 56).

 

Hans Weichselbaum und andere verweisen darauf, dass das Inzestthema zu einem der zentralen Themen in der Literatur um 1900 gehörte. Noch Robert Musil, der als Einzelkind ganz unverdächtig ist sich auf ein reales Ereignis zu beziehen, hat in seinem stark autobiografisch geprägten Roman "Der Mann ohne Eigenschaften" das Motiv der erotischen Geschwisterliebe an seinen Protagonisten Ulrich und Agathe entfaltet.

 

Und Trakl? Der lässt die Schwester etwa 60 mal als "Schwester", "Jünglingin", "Fremdlingin" und "Mönchin" in seinen Texten erscheinen. Im Gedicht "Blutschuld" wird sie, sofern wir der gängigen These vom autobiografischen Bezug vertrauen, allerdings nur über die Pronomina der 1. und 2. Person Plural mitgenannt. Ob es sich um Geschwisterinzest bei dieser "Blutschuld" handelt, wird im Text selbst nicht deutlich.

 

Von "Schuld" wird im Text in jeder der drei Strophen ausdrücklich gesprochen. Genauer ausgeführt wird diese Schuld nur indirekt über "Lager unsrer Küsse", "verruchter Wollust Süße", "steigen gierig Düfte", "Hauch der schwülen Lüfte" und in der Formulierung "Herzen sündiger wieder tönen". Auf "Schuld" reimt Trakl dreimal "Huld", und zwar in der Formel "Verzeih uns, Maria, in deiner Huld!" Bei "Maria" dürfte es sich um die religiöse Figur der Mutter Christi handeln, die im christlichen Ritus mit dieser Formel angerufen wird. 

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