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DER HERBST DES EINSAMEN

Der dunkle Herbst kehrt ein voll Frucht und Fülle.
Vergilbter Glanz von schönen Sommertagen.
Ein reines Blau tritt aus verfallner Hülle;
Der Flug der Vögel tönt von alten Sagen.
Gekeltert ist der Wein, die milde Stille
Erfüllt von leiser Antwort dunkler Fragen.

Und hier und dort ein Kreuz auf ödem Hügel;
Im roten Wald verliert sich eine Herde.
Die Wolke wandert übern Weiherspiegel;
Es ruht des Landmanns ruhige Gebärde.
Sehr leise rührt des Abends blauer Flügel
Ein Dach von dürrem Stroh, die schwarze Erde.

Bald nisten Sterne in des Müden Brauen;
In kühle Stuben kehrt ein still Bescheiden
Und Engel treten leise aus den blauen
Augen der Liebenden, die sanfter leiden.
Es rauscht das Rohr; anfällt ein knöchern Grauen,
Wenn schwarz der Tau tropft von den kahlen Weiden.

Es wäre etwas schlicht gedacht zu vermuten, Trakl habe in diesem Gedicht eine Selbstaussage beabsichtigt. Einsamkeit war sicherlich ein Merkmal seines Weltbezuges, aber wohl kaum das bestimmende, davon zeugen seine Briefe und die Mitteilungen seines Umfeldes zur Genüge. Ein Übermaß an Empfindungen, unbestimmte und umfassende Verzweiflung, Lebensnot, Hilflosigkeit begegnen dort. Darüber hinaus gibt es keine überzeugenden Hinweise darauf, dass Trakl im Schreiben "sich" habe mitteilen wollen. Er bezeichnete sein Schreiben als harte Arbeit an Ausdruck und Bildern, in einem Aphorismus auch als "Sühne". Aber nie als Mittel zur Selbsterkenntnis oder Selbstdarstellung. "Der eigenen Stille nun ungestört nachgehen können", so benannte Trakl gegenüber Wittgenstein, seinem unbekannten Gönner (einer Spende von 20.000 Kronen, etwa 60.000 Euro), in einem Brief sein künstlerisches Anliegen.

 

"Herbst" und "Einsamkeit" sind Motive, die in der Literatur gehäuft gemeinsam auftreten und dabei eine conditio humana gestalten, die um das Spannungsverhältnis von Fülle und Abschluss, Todesnähe und Erfüllung unter den Bedingungen der Individualisierung weiß. In "Herbsttag" von Rainer Maria Rilke (1902 in Paris geschrieben) wurde das Motiv in diesem Sinne mustergebend gestaltet. Veröffentlicht wurde "Herbsttag" 1902 im Band "Das Buch der Bilder". Dass Trakl Rilke las, ist bekannt. Ob er "Herbsttag" kannte, nicht. Motiventsprechungen wie "Frucht", "Sommer" und "Wein" könnten sich alleine dem gemeinsamen Thema verdanken, nicht unmittelbarem Bezug. Ein zweiter, sehr wahrscheinlicher, innerliterarischer Bezug ist der zu Hölderlins Gedicht "Der Herbst", in welchem der Vogelflug als Zeichensystem ("Der Geist der Schauer findet sich am Himmel wieder") sowie der "Landmann" erscheinen. Anklingt auch Hölderlins "Wie wenn am Feiertage".

 

Damit ist zumindest dies gesagt: Es geht um ein allgemeineres Anliegen. Nicht um die Gestaltung einer individuellen Stimmungsaussage. Das Allgemeine hat ein gemeinsames Bild in allen drei Strophen des Gedichtes: Die Behausung. "Ein reines Blau tritt aus verfallener Hülle", "Ein Dach von dürrem Stroh" und "In kühlen Stuben" lauten ihre Konkretionen. Bemerkenswert ist auch, dass alle drei Strophen die Farbe Blau nennen, "Ein reines Blau tritt aus verfallener Hülle", "Sehr leise rührt des Abends blauer Flügel/ Ein Dach" und "Engel treten leise aus den blauen/ Augen der Liebenden". Übergänge und sanfte Berührungen werden hier genannt, Metamorphosen, Verwandlungen, Wundersames. Die letzten beiden Zeilen aber bringen einen Mißklang in diese behutsame Welt "leiser Antworten": "Es rauscht das Rohr; anfällt ein knöchern Grauen,/ Wenn schwarz der Tau tropft von den kahlen Weiden." 

 

Das offene Ende von Hölderlins "Wie wenn am Feiertage" klingt an mit seinem "Doch weh mir! wenn von". Hölderlin selbst hat dem widersprochen in der letzten Zeile seines Gedichtes "Der Herbst", einem der spätesten Gedichte: "Und die Vollkommenheit ist ohne Klage."

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